Partei für Soziale Gleichheit

Wie ich beinahe agitiert wurde

Die heutige Heimfahrt über Berlin -Lichtenberg hielt für mich ein Erweckungserlebnis der besonderen Art bereit.

 

Mit müde gelaufenen Füßen hatte ich mich zu der Sitzgruppe vor der Dönerbude auf dem Bahnhofsvorplatz geschleppt und auf einer Bank im Schatten der Kastanien niedergelassen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz hatte sich ein kleiner Trupp um einen Infostand zusammen gefunden. Erst hielt ich das ganze für eine Veranstaltung der Linken, musste meinen Irrtum jedoch bald darauf korrigieren, denn das Kürzel PSG steht für "Partei für Soziale Gleichheit". Was für ein Name...
Das trotzkistische Splittertrüppchen versuchte offensichtlich, Unterstützerstimmen für die Berliner Abgeordnetenhauswahl zu sammeln. Ich googelte derweil das Programmpapier der PSG.
In mir machte sich ein Gefühl zwischen Zahnschmerzen und Magenverstimmung breit. 
Schnell das Smartphone abgeschaltet, um den Akku zu schonen.
Während sich der Spitzenkandidat für die mitgebrachte Kamera in Positur brachte, schwârmte eine halbe Handvoll Agitatoren aus, um Passanten zur Unterschrift als Unterstützer zu bewegen.
Ein junger Mann mit fettigem Haar in loddrigem Shirt, Flipflops und kurzer Hose hatte einen alten Herrn am Gehstock shanghait, der offensichtlich nicht schnell genug weglaufen konnte.
Er bugsierte den Alten neben mich auf die Bank und agitierte ihn. Am schönsten fand ich die Passage, als das leicht ungewaschen nach Hartz IV duftende Jüngelchen dem Alten, der den Krieg noch als Jugendlicher erlebt haben dürfte, den Zweiten Weltkrieg erklären wollte.
Der alte Herr antwortete ruhig und besonnen, während der junge Agitator immer schriller und aggressiver im Ton wurde. In mir machte sich der unangenehme Gedanke breit, dass ich im Wortsinn das nächstliegende Opfer wäre, falls er bei dem alten Herrn nicht zum Zuge käme und mich dann im Falle meiner Flucht von dem schattigen Plätzchen auf der Bank trennen müsste.
Doch kaum griff dieser Gedanke in mir Raum, als hinter mir, aus Richtung der Dönerbude, eine martialische Stimme ertönte: "Jetz gibs Ärger!"
Aus der trinkfreudigen zeittotschlagenden stammnichtwählenden Stammkundschaft des Döners löste sich die furchterregend disproportionierte Figur einer Vertreterin der nichtwerktätigen Arbeiterklasse und steuerte in leichten Schlängellinien den Infostand an.
"Euch müsste man alle abknallen!" kreischte es. "Soziale Gleichheit! Das ich nicht lache!'"
Die lautstarke Agitation neben mir verstummte schlagartig. Die Arbeiterklasse hatte ihr Urteil über die PSG gesprochen.
Als ich wenig später in den Bus des Schienenersatzverkehrs einstieg, sah ich einen alten Mann unbehelligt über den Bahnhofsvorplatz davon humpeln.